Der Mann von vierzig Jahren by Jakob Wassermann


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Page 4

Eines Nachmittags sa� Agathe mit der kleinen Frau des Inspektors
zusammen. Sie schwatzten �ber Frauensachen, Sylvester hatte am Tisch
Platz genommen und las in einem Buch; bisweilen blickte er zu den beiden
hin�ber und da bemerkte er, da� die kleine Inspektorin ebensooft einen
raschen, erkundenden Blick auf ihn warf. Er beobachtete sie sch�rfer,
und sie sp�rte es sofort, denn sie versteckte die F��e unter dem Kleid,
und Schultern und Arme zeigten jene koketten halben Bewegungen, die zu
gefallen berechnet sind. Es lag darin etwas Belebendes f�r Sylvester.
Die sinnliche Str�mung, die zwischen ihm und dem fremden Weib entstanden
war, machte ihn feurig und froh. Er erhob sich und ging an den Frauen
vor�ber, und er tat es nur deshalb, damit er im Vor�bergehen mit seinem
�rmel das Gewand der Inspektorin streifen konnte; in der Sekunde, in der
es geschah, glaubte er sie zu besitzen; in derselben Sekunde wurde ihm
auch bewu�t, da� er fort mu�te, fort von Agathe und dem Kind, da� er
dadurch seinen Untergang vielleicht herbeif�hren w�rde, da� aber sein
Bleiben diesen Untergang nicht verh�ten k�nne. Er stellte sich dann
hinter Agathes Stuhl, Agathe schaute zu ihm empor, und sie l�chelte
vergn�gt, weil sie ihn l�cheln sah. Aber sein L�cheln galt nicht ihr, es
galt der andern, die auch zu ihm aufblickte. Und obwohl ihm Agathes Z�ge
vertraut und angenehm vertraut waren, da ihre Art zu sprechen, zu
denken, zu lachen, zu weinen ihnen die ihm allein entr�tselbaren
charakteristischen Formen verliehen hatte, obwohl ihr Antlitz ihm wie
ein Gef�� voll zarter und heiliger Erlebnisse war, die sein Dasein
ver�ndert und versch�nert hatten, hingen seine Gedanken und Empfindungen
doch an dem gew�hnlichen und leeren Gesicht der Fremden, die nichts
weiter als h�bsch war, h�bsch, jugendlich und unbekannt.

Er hatte danach die Inspektorin weder gesprochen, noch hatte er das
fl�chtige Spiel zum zweitenmal anzufangen versucht. Aber er hatte sich
selbst begriffen. Er sah ein Gleichnis f�r seine Not. Jemand will eine
Reise antreten; auf dem Weg zum Bahnhof begegnet ihm ein Freund, der ihm
die Reise dringend widerr�t; die Gesellschaft des Freundes entz�ckt
ihn, sie verbringen Tage, Wochen, Jahre miteinander, endlich aber
schl�gt dem Zur�ckgehaltenen das Gewissen; war es gleich kein bestimmter
Auftrag, der ihn einst zu der Reise veranla�t, so war es doch sein
innerer Trieb; ihm ist, als sei er sich selber ungehorsam gewesen, als
habe er sich selbst betrogen; ihn peinigt der Gedanke an die Sch�nheit
der Landschaften, die er nicht gesehen hat, an die M�glichkeiten und
Aussichten, die ihm entgangen sind, und mag sein gegenw�rtiges Gl�ck
noch so gro� sein, das Gef�hl des unwiederbringlichen Verlustes wird ihn
nicht zur Ruhe kommen lassen.

Sylvester wollte noch einmal frei sein. Wei� ich denn, an welchem Tag
sich die Pforte hinter mir schlie�en wird? fragte er sich. Wei� ich
denn, was mich hinschleudern, kraftlos, wunschlos, m�de machen wird? Ihm
tauchten Bilder auf von mannigfacher Lockung. Es riefen ihn Stimmen von
allen Seiten. Er wollte leben, ohne Ziel und ohne Ma� leben. Nicht der
Luxus der St�dte, nicht Feste und Geselligkeit zogen ihn hin; es kam wie
von einem Traum. Ergreifen und ergriffen werden waren Worte, vor denen
er wie vor einem Urwald stand. Wenn er an die unendlichen Gestaltungen
des Lebens dachte, �berlief ihn ein Schauer, den er seit seiner Jugend
nicht mehr versp�rt hatte. Er taumelte dahin und suchte Platz. Die
Vielzahl der Wege ber�ckte seine Augen. Eine wechselvolle Erwartung
st�rmte wie Brandung in ihm. Es mu�ten nicht nur l�chelnde Gesichter
sein, auch Tr�nen zu sehen war er bereit. Schon ahnte er, wie sein Herz
verstrickt wurde; noch ist es nicht zu sp�t, sagte er sich, noch ist der
wunderbare Magnetismus in mir, den ich verloren zu haben gef�rchtet. Und
darauf eben kam es an. Dies war zu erproben. Seine Seele war erf�llt von
einer Schar bunter Genien; wenn er im Walde ging oder einsam lag und vor
sich hinsann, gewahrte er Frauen und M�dchen mit sch�nen Augen und
sch�nen Haaren; sie warteten auf ihn; jede war in einer
stillbeschlossenen Bewegung; jede begl�ckte ihn durch ihre eigent�mliche
Weise, zu sein. Aber auch die Wirklichkeit hatte einen neuen Zauber f�r
ihn gewonnen: eine, die am Brunnen stand und Wasser sch�pfte; eine, die
am Fenster ihrer Kammer sa� und zum Mond emporschaute; eine, die hinterm
Zaun auf ihren Geliebten wartete; eine, die verschleiert in einem Wagen
zur Kirche fuhr; eine, die vor seinem Blick err�tete und sich dann
niederbeugte, um ihr Schuhband zu kn�pfen. Jede hatte ihr Geheimnis; die
Augen einer jeden Frau waren geheimnisvoll; er liebte ihre Augen bis zum
Schmerz; jedes Auge war ihm eine unerforschte Welt; dies war das
G�ttliche, das Geisterhafte; aber das Sinnliche, das Nahe waren ihre
H�nde, sanfte, stolze Wesen f�r sich, sonderbar entkleidet, herrlich
gegliedert, unbewu�t die geh�tetsten Regungen verratend.

Sein Herz verschmachtete nach Z�rtlichkeit, denn es war ihm klar
geworden, da� er die Leidenschaft nicht kannte. Er hatte geliebt, oft
und heftig; er hatte als junger Mann vieles Ungew�hnliche erlebt an
Begegnungen, an Hingabe, manche Stunde der Gnade und der Lust, manche
Wochen des Rausches, manche Nacht jener halb gern gelittenen Leiden, die
traurig und erfahren machen, aber ein Gef�hl, das alles bisherige Leben
t�tet und ein neues daf�r schafft, das aufl�st und sammelt in einem
Atem, von dem jeder zu wissen scheint und zu welchem doch nur Gottes
Lieblinge erw�hlt werden, das kannte er nicht. Er wollte es kennen
lernen. Und wenn er heimkehren mu�te, ohne es gefunden zu haben, dann
wu�te er wenigstens, da� es ein solches Gef�hl f�r ihn nicht gab.

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Books | Photos | Paul Mutton | Sun 2nd Feb 2025, 19:03