Der Mann von vierzig Jahren by Jakob Wassermann


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Page 2

Kein Brief, kein Zeichen meldete ihr, wohin er sich gewandt. Frau
�sterlein, Silvias Pflegerin, erz�hlte, er sei in der Nacht zuvor an das
Bett des Kindes getreten, habe es aus den Polstern gerissen und an seine
Brust gedr�ckt; Silvia habe jedoch fest geschlafen und von dem
Zwischenfall nichts in Erinnerung behalten. Fast gleichzeitig bekam
Agathe eine Post des W�rzburger Bankhauses, worin ihr ordnungsgem��
mitgeteilt wurde, da� Herr von Erfft die Summe von zweitausend Talern
behoben habe.

Agathe begab sich in ihr Zimmer, setzte sich hin und w�hlte die Stirn
in die Winkel beider Arme wie in ein Versteck. Sie sch�mte sich vor dem
Mittagslicht, und die erste Frage an ihr Inneres war, welchen Makel sie
auf sich geladen, welche S�nde sie unwissentlich begangen haben k�nne.
Sie war bereit, jeden Fehler in sich selbst zu suchen und h�tte sich
eines Verbrechens bezichtigt, wenn sie es nur zu entdecken vermocht und
dadurch Klarheit erlangt h�tte. Das Herz, das ihr am teuersten war, in
geheimnisvoller Weise umschleiert zu wissen, d�nkte ihr unertr�glich.
Desungeachtet bewahrte sie vor den Leuten ihre Haltung, und kein
Sp�herauge war imstande, hinter den wohlwollend ernsten Z�gen den
nagenden Kummer zu bemerken.

So verging eine Woche. An einem Nachmittag stand Agathe im Hof und
sprach mit dem Inspektor, da kam der Bote und reichte ihr einen Brief.
Ohne zu sehen, sp�rte sie, da� der Brief von Sylvester war. Diesmal
versagte die Selbstbeherrschung: ihre Hand zitterte, ihr Gesicht
erbleichte. Sie eilte ins Haus; im Wohnzimmer mu�te sie sich an die
zugeworfene T�re lehnen und die erregte Brust erst ausatmen lassen, ehe
sie die Briefh�lle aufri�. Dann las sie, und ihre angespannte Miene
wurde mit jeder Sekunde ruhiger, aber auch verwunderter.

Der sonderbare Mann schrieb ihr, als ob es die nat�rlichste Sache von
der Welt sei, da� er sich fern von Haus und Hof befand und als ahne er
nichts von Agathes Herzensunruhe. Er wu�te seine Mitteilungen in einen
anmutigen Stil zu kleiden; es war seine vorz�gliche Gabe von jeher
gewesen, aber nie fr�her und nie mit solchem Recht hatte Agathe dieser
Gewandtheit so tiefes Mi�trauen entgegengesetzt; die glatten und
schmuckhaften Wendungen erschienen ihr wie L�gen, und sie bedurfte der
M�he gro�er Selbst�berredung, damit die festgegr�ndete Achtung sich
nicht verringerte, die sie gegen Sylvester hegte. Er schrieb ihr von
gleichg�ltigen Bekannten, die er getroffen, von der Familie des
Pr�sidenten, wo er diniert, von der Einladung des Gro�herzogs, nach
Karlsruhe zu kommen, von seiner Reiselust, von einem schlechten
Theaterst�ck das er gesehen; dann fuhr er fort: �Ich bewohne zwei elende
Zimmer im Gasthof, hoch oben im dritten Stock, denn wegen der N�rnberger
Messe ist alles �berf�llt. Doch hat mir dieses Ungemach zu einem kleinen
Abenteuer verholfen. In dem Fenster gegen�ber ist eines Abends ein
junges M�dchen aufgetaucht. Wir haben einander in die Augen gesehen wie
zwei Wesen von verschiedenen Sternen. Sie ist mehr als jung, das Blut
in ihren Adern singt vor Jugend; dabei ist sie melancholisch wie alle
Aufwachenden, mit ihren schwarzen Judenaugen klagt sie mir das Leiden
von vielen Geschlechtern, und ihre Geb�rden sind unbeholfen wie bei
Gefangenen. Wenn ich mit de Vriendts Schach spiele, denke ich an sie,
wenn ich durch die �den S�le der Residenz gehe, um meine geliebten
Tiepolos anzusehen, begleitet sie mich wie eine flehende Sklavin. R�tst
du mir, sie zu verf�hren, Agathe? Sie zu verf�hren, nur um sie
loszuwerden? Ich wei�, du legst auf eine Treue kein Gewicht, die sich
nur um des Scheines willen behauptet. Du h�ltst ja wenig von den
Sinnenfreuden, zu wenig vielleicht, um mich ganz zu verstehen. So weit
ich Tier bin, duldest du mich, deine Nachsicht ist zu �berirdisch, als
da� sie mich nicht dem�tigen sollte.�

Agathe lie� das Blatt sinken und ihre Augen tr�bten sich gedankenvoll.
Das klang wie Ironie; f�r Ironie fehlte ihr das Verst�ndnis. Nach einer
Weile las sie weiter: �Ich war nie der Ansicht, da� Blutstrieb ein
Brandmal der Kreatur sei. Soll ich meinen Gel�sten eine Larve
aufstecken, mit der sie heuchlerisch in mein Leben grinsen? Liebe ist
etwas sehr Weihevolles, aber auch etwas sehr Irdisches, und wir m�ssen
nicht f�rchten, gemein zu werden, wenn wir unschuldig genug sind,
unsern K�rper zu achten. Ich mache mir nichts aus der schmachtenden
Orientalin, ich mache mir aus keiner was, es ist nur Begehrlichkeit, und
nur lahme Seelen sind begehrlich. Meine Seele ist lahm, Agathe, sie mu�
geheilt werden. Ich werde meinen Aufenthalt ver�ndern. Wohin ich gehe,
kann ich noch nicht sagen; wann ich zur�ckkehre, kann ich auch nicht
sagen. Hab Geduld und vergi� f�r einige Zeit deinen Sylvester.�

Es war Agathe zumute, als flie�e Quecksilber �ber ihre Finger. Sie fa�te
nicht die Worte; aus einem vertrauten Antlitz sprach eine unbekannte
Stimme; ein b�ser Geist t�uschte die Gestalt eines Freundes vor. Er ist
krank, fuhr es ihr durch den Sinn, und da nun Silvia mit gro� fragenden
Augen vor sie hintrat, als ahne das Kind den Schmerz und Zwiespalt der
Mutter und fordere stumm eine entscheidende Handlung, beschlo� sie zu
ihm zu gehen. Es war Abend geworden, als sie diesen Vorsatz gefa�t
hatte, sie schickte zum Inspektor hin�ber und bestellte den Wagen. Am
andern Tag, in ziemlich fr�her Morgenstunde, fuhr sie in die Stadt.

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Books | Photos | Paul Mutton | Sun 2nd Feb 2025, 13:45